Die Reformation feiert Geburtstag. 500 Jahre ist es her, dass Martin Luther seine Thesen an das Portal der Schlosskirche zu Wittenberg geschlagen hat. Die evangelische Kirchengemeinde Westerkappeln hat das Gedenkjahr mit einem ganz besonderen Gottesdienst eingeläutet.
Unter dem Motto „Luther zwitschert wieder“ hat der Kulturbeauftragte des Evangelischen Kirchenkreises Tecklenburg, Norbert Ammermann, in die Westerkappelner Stadtkirche eingeladen. Mit sangeskräftiger Unterstützung von Julia Vogel (lyrischer Sopran) und Esther-Sophia Kantor (lyrischer Koloratursopran und böhmische Harfe) ist der musikbegeisterte Pfarrer bestrebt, der Gemeinde das Liedgut Luthers als Ausdruck des Reformationsgedankens zu veranschaulichen und erlebbar zu machen. „Für Martin Luther war die Melodie nicht einfach nur die Unterlegung des Liedtextes“, erklärt Ammermann: „Luther war davon überzeugt, dass sich durch die Melodie der Geist Gottes den Weg in die Herzen der Menschen bahnt.“ Der 1483 in Eisleben geborene Theologieprofessor hat um die 40 Kirchenlieder selbst geschrieben und vertont – und brachte – ein absolutes Novum in der vorreformatorischen Zeit – die Gemeindmitglieder selbst, und das auch noch in ihrer Muttersprache, zum Singen.
Verwirrte U-Boot-Christin
Als praktizierende U-Boot-Christin, die privat zwar selten, dafür aber zuverlässig stets und ausschließlich an Heilig Abend in der Stadtkirche auftaucht, wundere ich mich schon ein bisschen, als ich die schwere Holztür zum Seitenschiff des Gebäudes öffne: Sämtliche Bänke sind leer. Irritiert blicke ich auf meine Armbanduhr: 10.05 Uhr. Der Beginn des Gottesdienstes ist auf 10.30 Uhr terminiert. Die Sorge, keinen Platz mit guter Sicht auf das Geschehen mehr zu ergattern, war also unbegründet. Im Altarraum gehen Julia Vogel, Esther-Sophia Kantor und Norbert Ammermann noch ein letztes Mal die Liedfolge durch. Küsterin Olga Bel kümmert sich darum, dass genügend Gesangbücher bereit liegen und achtet mit wachem Blick auf jedes Detail. Lektor Winfried Raddatz legt sich seinen Text zurecht.
Longboards und Rollatoren
Ich nehme Platz und lasse meinen Blick durch den weitläufigen Innenraum der Stadtkirche schweifen – hell, freundlich, von der Herbstsonne geflutet. Eine Atmosphäre, die auch mein Inneres mehr und mehr in einen besinnlichen Gemütszustand versetzt. Stimmen hallen inzwischen leise durch den Raum. 10.20 Uhr. Die ersten Senioren sind eingetroffen, einige von ihnen kommen mit Gehilfe, Rollator oder im Rollstuhl. Die meisten in Begleitung. Geschäftige Konfirmanden verstauen ihre Longboards vorsichtig unter den Bänken. Frauen und Männer mittleren Alters begrüßen einander und plauschen noch ein wenig. Olga Bel verteilt lächelnd die Gesangbücher. Das Kirchengeläut kündigt den Beginn des Gottesdienstes an. Ich sehe mich um: Nicht so voll wie an Weihnachten ist die Stadtkirche – aber was es mit dem zwitschernden Luther auf sich hat, das scheint offenbar doch einige Westerkappelner und auch den einen oder anderen Gast aus der Nachbargemeinde Lotte zu interessieren.
Akustischer Zeitsprung
Der klare, schillernde Sopran von Julia Vogel und die filigrane Harfenbegleitung durch Esther-Sophia Kantor tragen uns fünf Jahrhunderte in der Zeit zurück. Und gestalten dabei eine beeindruckend authentische Klangkulisse: „Das, was wir heute als Kirchenorgel kennen“, erklärt mir Kantor Martin Ufermann später, „gab es im Mittelalter ja noch gar nicht.“ Begleitet worden seien die Gesänge der ersten Kirchenlieder Martin Luthers wohl eher von einer Laute oder – wie jetzt in der Stadtkirche: von einer böhmischen Harfe. Egal ob „Aus tiefer Not“, „Nun komm, der Heiden Heiland“ oder „Ein feste Burg“ – die Lieder des Reformators handeln in der Regel von Schuld und Not, Barmherzigkeit und Vergebung.
Schon wieder Weihnachten?
Als wir schließlich das ebenfalls aus der Feder Luthers stammende „Vom Himmel hoch“ anstimmen, bin ich neuerlich irritiert: Ist denn schon Weihnachten? „Luther hat dieses Lied nicht so sehr als Weihnachts-, sondern viel mehr als Geburtstags- und Willkommenslied für Jesus Christus geschrieben“, erläutert Norbert Ammermann. Eigentlich könne man es das ganze Jahr über singen. Wieder etwas dazu gelernt, denke ich und stimme kräftig mit ein – in Gedanken bereits bei meinem nächsten Gottesdienstbesuch, der ja immerhin in gut sieben Wochen auch schon wieder fällig ist.
(Erschienen in: Westfälische Nachrichten, 02.11.2016)