Gemeinsam mit ihren Teamkolleginnen hat Carolin Schnarre aus Lotte bei den Paralympics in Rio die Mannschafts-Silbermedaille im Dressurreiten gewonnen. Die fast blinde Reiterin fühlt sich im Sattel wie zuhause – und das seit mehr als zwanzig Jahren.
Ein leises Wiehern. Das Stroh raschelt. Mit neugierigem Schnaufen wendet sich Del Rusch der Tür in seiner Stallbox zu. Herein schaut seine Reiterin Carolin Schnarre, den Dressursattel in der Hand. Das lederne Reitutensil kündigt allerdings mitnichten die nächste schweißtreibende Trainingsstunde für den dunkelbraunen Wallach mit dem leuchtend weißen Stern auf der Stirn an, sondern soll lediglich mit auf das nun bevorstehende Foto: als Lieblingsplatz von Carolin Schnarre, der Mannschafts-Silbermedaillen-Gewinnerin im Dressurreiten bei den diesjährigen Paralympics in Rio.
Vorläufiger Karrierehöhepunkt
Für die 24-Jährige bedeutet ihr Erfolg in der südamerikanischen Metropole – Silber mit der Mannschaft und zweimal Fünfte in der Einzelwertung – den vorläufigen Höhepunkt in ihrer ungewöhnlichen Karriere auf dem Pferderücken. Del Rusch hat sich durch seine vorbildlichen Leistungen bei den Paralympics vor allem eine komfortable Auszeit verdient: Er genießt sichtlich die nur leichte Arbeit und die vielen faulen Stunden auf der Weide der Pferdepension Schultenhof, bevor das Training in ein paar Wochen auch für ihn wieder beginnt.
„Jeder Tag ein Abenteuer“
„Es war sehr schön, aber auch sehr anstrengend in Rio“, beschreibt Carolin Schnarre mit einem erleichterten Seufzen die zweieinhalb Wochen sportlichen Ausnahmezustand in der Stadt am Fuße des Zuckerhuts. Das Leben im olympischen Dorf – das Quartier der deutschen Reiterinnen befand sich in einem 18-stöckigen Gebäude auf dem weitläufigen Olympiagelände – „das war schon so ein bisschen wie Jugendherberge“, schmunzelt die Lotteranerin. „Jeden Morgen sind wir mit dem Bus zum Stall gebracht worden“, berichtet sie. „Mal hat die Fahrt eine halbe Stunde gedauert, mal anderthalb Stunden. Jeder Tag war ein Abenteuer.“ Ihre Mutter Kerstin, ausgebildete Reitlehrerin, hat Del Rusch als Pferdepflegerin begleitet und mit den anderen Grooms in der Nähe der Stallungen gewohnt. Welcher Eindruck wird bleiben von Rio? „Die vielen Menschen im Stadion, der Applaus – das war eine ganz besondere Atmosphäre.“
Folgenschwerer Gendefekt
Das Reiten hat Carolin Schnarre schon als kleines Mädchen für sich entdeckt: „Mit drei Jahren habe ich Chippy, mein erstes Pony, bekommen“, erinnert sie sich. Damals hatte sie noch ihre volle Sehkraft und ahnte nichts von dem Gendefekt, der ihr im Alter von 18 Jahren das Augenlicht bis auf drei Prozent nehmen würde. „Meine Mutter ist damals voran geritten“, erzählt sie, „und Chippy und ich sind einfach hinter ihr her getrabt – so habe ich Reiten gelernt.“ Als sie 16 Jahre alt war, nahm Carolin Schnarre erfolgreich an Dressurprüfungen der Klasse M (Mittelschwer) und Springprüfungen der Klasse S (Schwer) teil. Dann ließ plötzlich ihre Sehkraft nach. Nach einem längeren Krankenhausaufenthalt stand fest, dass sich das verlorene Augenlicht nicht wieder herstellen lassen würde.
Ein Sattel gibt Halt …
Ihr Lieblingsplatz auf dem Rücken der Pferde hat Carolin Schnarre auch in dieser Zeit Halt gegeben. „Weil ich ohne zu sehen die Springreiterei nicht weiter betreiben konnte“, sagt sie, „habe ich mich auf das Dressurreiten spezialisiert.“ Mit ungebrochenem Erfolg: 2014 gewann sie bei der Para-Weltmeisterschaft mit der Mannschaft die Bronzemedaille und belegte in der Einzelwertung die Plätze fünf und sieben. Von der Europameisterschaft 2015 brachte die ausgebildete Pferdewirtin drei Bronzemedaillen mit: zwei in der Einzel- und eine in der Mannschaftswertung. Außerdem ist sie amtierende Deutsche Meisterin bei den Para-Reiterinnen in der Dressur.
Die nächste Herausforderung
Während Del Rusch gemütlich am Heu herum knabbert und seinen lauen Lenz genießt, wartet auf seine Reiterin bereits die nächste Herausforderung: „Am 16. November nehme ich bei den German Masters in Stuttgart an der großen Hengstquadrille der Landesgestüte teil“, freut sie sich schon. Ihren Dressursattel mit der Rio-Erfahrung lässt sie dann allerdings in der Sattelkammer des Lotteraner Schultenhofs zurück. „Bei den Landesgestüten hat jedes Tier seinen eigenen Sattel“, sagt sie, klopft ihrem braunen Wallach den Hals und schließt zufrieden die Stalltür.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 19.10.2016)