Die Mutter aller Pinkelkurven

Hier geht es zu den Toiletten... Foto: Sigismund von Dobschütz/wikipedia
Wann ist endlich Halbzeit?! Hier geht es zu den Toiletten… Foto: Sigismund von Dobschütz/wikipedia

Pinkelkurve? Extrempunktberechnung? Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel? Nein, wer wissen will, was eine Pinkelkurve ist, braucht keine Formelsammlung über Strahlensätze, Differenzialquotienten oder Tangentensteigung – und auch keine sanitären Einrichtungen zu bemühen. Das geistige Durchdringen des Phänomens beruht eher auf dem Wissen um soziokulturelle Rituale, organische Notwendigkeiten und die menschliche Fähigkeit, in den entscheidenden Momenten des Daseins Prioritäten zu setzen. Und was bitte schön könnte entscheidender sein als eine Fußball-WM-Live-Übertragung? Gleichsam die Mutter jeder Pinkelkurve.

Was oben reinkommt, will früher oder später unten wieder raus

Kiste Bier. Kiste Wasser. Kiste Cola. So ungefähr dürfte die Grundversorgung für ein 90-minütiges WM-Spiel beim durchschnittlichen Rudelgucken im kleineren Rahmen aussehen. Um die Spannung einer sportlichen Begegnung von derart globaler Dimension auch nur halbwegs zu ertragen, braucht es neben einem großen Bildschirm – erstens: Der eigenen emotionalen Impulsivität gegenüber aufgeschlossene Kommunikationspartner zum Austauschen, Aufregen, Trösten und Fachsimpeln. Zweitens: Verpflegung in fester und flüssiger Form, die nicht in erster Linie dem schnöden Selbstzweck der Sättigung dient, sondern vielmehr zum Ablenken von spielerischen Defiziten der Lieblingsmannschaft, zum Abkühlen des erregten Gemüts oder – wenn die Partie gut läuft, gern auch zur Genusssteigerung des Gesamterlebnisses. Das führt schnurstracks zu Punkt drei: Zu jedem WM-Fernseh-Event gehört unabdingbar eine gut erreichbare Toilette. Denn der Mensch – und also auch der Fußballfan – ist ein offenes System: Was oben reinkommt, will früher oder später unten wieder raus.

Was Tausende von unfreiwillig synchronisierten Blasen so anrichten…

Bei der WM-Übertragung muss sich die – oft überdurchschnittlich beanspruchte – Blase kompromisslos dem strengen Willen ihres Besitzers beugen: Wer keine Torchance, keine Flanke und kein Foul verpassen will, der bringt mit angestrengtem Lächeln auch rudimentäre Körperfunktionen unter Kontrolle und wartet mit dem Toilettengang bis zur Pause. Mit dem Halbzeitpfiff fordern dann allerdings Tausende von unfreiwillig synchronisierten Blasen vehement ihr Recht – „und dadurch kommt es zur Pinkelkurve“, erklärt Axel Böhmer von der Wasserbereitstellung der Stadtwerke. Er und seine Kollegen finden es eher zum Schmunzeln, wenn sie am Verlauf der Verbrauchskurve den verräterischen Knick nach unten bemerken, der rund eine Stunde vor Spielbeginn – pünktlich zur unverzichtbaren Vorberichterstattung – einsetzt: Ab jetzt verkneift sich der Fußballfan nicht nur den Gang zur Toilette, sondern natürlich auch jeden anderen unnötigen Griff zum Wasserhahn: Es wird nicht geduscht, gekocht, gebadet und auch die Waschmaschine ruht in der Regel. „Mit dem Abpfiff zur Halbzeitpause steigt die Verbrauchskurve dann schlagartig an“, erläutert Axel Böhmer: „Das ist zwar nicht wissenschaftlich belegt, aber es liegt schon nahe, dass dieser Pik in der Verbrauchskurve vor allem durch die Toilettenspülungen der Fußballfans zustande kommt.“ Man kann das erleichterte Seufzen auf dem Scheitelpunkt der Kurve förmlich hören.

Für die Stadtwerke kein Problem

Bei einem Spülvorgang werden zwischen sieben und zehn Liter Wasser verbraucht. Für die Stadtwerker stellen WM-Fußballspiele keine Probleme dar: In den drei großen Trinkwasserhochbehältern der Stadt auf dem Piesberg, dem Schöler- und dem Schinkelberg, halten sie – jeden Morgen frisch gefüllt – die komplette Menge des durchschnittlichen Tagesbedarfs an Trinkwasser für die Osnabrücker bereit: Rund 30.000 Kubikmeter. Und ob diese Menge nun stetig oder sprunghaft verbraucht wird, spielt für die Versorgung keine Rolle.

(Erschienen in: Osnabrücker Wissen, Ausgabe II/2014)