Süß, lecker, aromatisch – aber namenlos

Genau hinschauen und jede Menge Fachwissen aktivieren - das müssen Jens Pallas (links) und Christian Blom, um die bis dahin namenlosen Äpfel der Ratsuchenden der richtigen Sorte zuzuordnen. Foto: Ulrike Havermeyer
Genau hinschauen und jede Menge Fachwissen aktivieren – das müssen Jens Pallas (links) und Christian Blom, um die bis dahin namenlosen Äpfel der Ratsuchenden der richtigen Sorte zuzuordnen. Foto: Ulrike Havermeyer

Die eine schmeckt knackig und sauer, die nächste mehlig und süß. Mehr als tausend Apfelsorten soll es allein in Deutschland geben. Die Kernobstspezialisten Christian Blom und Jens Pallas vom Pomologen-Verein kennen beeindruckend viele von ihnen.

Seit Generationen versorgt unser knorriger, alter Apfelbaum uns zuverlässig mit frischen Vitaminen. Mein Urgroßvater hat ihn gepflanzt, mein Großvater hat ihn veredelt. Und meine Mutter backt den leckersten Apfelkuchen der Welt aus seinen Früchten. Doch der Zahn der Zeit setzt unserem hölzernen Freund mehr und mehr zu: Seine Äste werden morsch, und seine früher so prallen Früchte fallen von Saison zu Saison schrumpeliger aus. „Da solltet ihr möglichst bald einen neuen pflanzen“, riet uns unsere Nachbarin jetzt, „dieser hier ist einfach zu alt.“ Eine gute Idee – allerdings gibt es da ein Problem: Wir haben keine Ahnung, wie unsere Lieblingsapfelsorte, die wir da über all die Jahrzehnte verspeist haben, eigentlich heißt.

Der mit der neuen Schale

Mein Großvater, der das Reis damals von einem entfernten Bekannten bekommen hatte, war seinerzeit ebenfalls ratlos. Als der identitätslose Baum die ersten Früchte trug, leuchteten diese in einem satten Rot. Und weil seine Obstwiese bis dahin von grünwangigen Sorten geprägt war, taufte mein Großvater den farbenfrohen Apfel mit dem ihm eigenen kreativen Pragmatismus auf den Namen „Schalonowski“ – der mit der neuen Schale.

Kleine Schummelei

Dass dieses Etikett allerdings eher einem Künstlernamen denn einer Sortenbezeichnung entsprach, war uns stets klar. Aber solange der Schalonowski-Baum trug, war die kleine Schummelei lediglich eine amüsante Anekdote – Hauptsache, die Äpfel schmeckten. Doch nun, wo unser Liebling schwächelt, gilt es sein Inkognito aufzudecken, damit wir uns unter dem richtigen Namen einen neuen – identischen! – Baum zulegen können. Kurzum: Das Wissen von Fachleuten ist gefragt. Und so reihe ich mich mit einem Beutel voller „Schalonowskis“ gespannt in die Schlange der Wartenden ein, die den Apfeltag der Baumschule Fels in Westerkappeln nutzen, um sich am Stand des Pomologen-Vereins Rat einzuholen.

Hast du eine Idee?

Jens Pallas kneift die Augen zusammen und dreht die Frucht, die eine ältere Dame auf die Tischplatte gelegt hat, mit skeptischen Blicken vor seinem geschulten Auge. „Ich weiß nicht so recht“, überlegt der promovierte Botaniker, „die tiefe Stielgrube würde ja passen… aber ein Gelber Edler wäre nicht so dreh-rund… und dann dieser strahlige Rostklecks… ich bin mir da nicht sicher. Hast du eine Idee?“ Nein, auch sein Kollege Christian Blom kann das Rätsel nicht lösen: „Wäre es ein Seestermühler Zitronenapfel“, sagt er und fährt mit der Fingerkuppe über die Schale nahe der Blüte, „müsste er Rippen haben.“ Pallas und Blom nicken einander zu: „Den nehmen wir mit. Den soll der Papst sich ansehen.“ Der Papst – das ist Hans-Joachim Bannier, einer der renommiertesten Apfelkenner Deutschlands und der Ausbilder von Pallas und Blom. Wenn der es nicht weiß, dann weiß es keiner.

Farbe, Form, Geschmack

Das nächste Exemplar, ein leicht geröteter, fettig glänzender, glockenförmiger Apfel ist dran. „Wir gucken uns erstmal die Merkmale an, die wir von außen erkennen können“, erklärt Christian Blom: „Farbe, Form, Blüte, Stielgrube, Länge des Stiels.“ Oft helfen auch die Hinweise des Apfelbaumbesitzers weiter: Steht der Baum im Schatten oder in der Sonne? Wie alt ist er? Wann sind die Früchte pflückreif und wie werden sie genutzt? Lassen sie sich lagern? „Wichtig ist, dass die Leute zum Bestimmen nicht bloß einen, sondern mindestens drei, noch besser fünf Exemplare mitbringen“, schaltet sich Jens Pallas ein. Denn häufig variiere das Erscheinungsbild der Früchte selbst bei ein und derselben Sorte erheblich. Bringt der äußere Anblick keine Klärung, greifen die Pomologen zum Messer: Die Form und Größe der Kerne, die Länge der Kelchröhre und die Farbe sowie der Geschmack des Fruchtfleisches liefern weitere Hinweise. Mit Wissen, Erfahrung und Akribie ordnen Pallas und Blom die süßen Proben den entsprechenden Sorten zu: Nathusius Taubenapfel, Florina, Westfälischer Gülderling, Rheinischer Winterrambour, Prinz Albrecht von Preußen, Jakob Lebel.

Ganz klar: ein Lieblingsapfel

Vorsichtig lasse auch ich meine rotbackigen Schätze aus dem Beutel kugeln. Ob unser geheimnisvoller Schalonowski womöglich sogar zum Papst geschickt werden muss? Doch ein schneller Blick, ein flüchtiger Griff genügen – da breitet sich auf den Gesichtern von Blom und Pallas bereit ein entspanntes Lächeln aus. „Das ist definitiv eine Biesterfelder Renette“, geben beide unisono zu Protokoll. „Hat ein herrliches Aroma“, schwärmt Christian Blom, „ist in der Region weit verbreitet – und einer meiner Lieblingsäpfel.“

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 28.09.2016; Westfälische Nachrichten, 28.09.2016)