Nein, ich habe noch nicht gefrühstückt. Nicht einmal einen Kaffee getrunken, als ich um kurz vor fünf die Backstube der Mettinger Bäckerei Sültemeyer-Lampe betrete. Der betörende Duft von frischen Brötchen – süß und herzhaft, in den ich eintauche, entlockt meinem Magen ein vorwurfsvolles Knurren. Mein Blick bleibt haften an Körben voller knuspriger Semmeln, Wecken, Schrippen. Mit Mohn. Mit Sesam. Mit Körnern. Gerade öffnet Bäckermeister Werner Wulfmeyer den heiße Dampfschwaden ausatmenden Ofen, um ein weiteres Blechvoll zu Tage zu fördern. Vor meine erste Mahlzeit habe ich mir heute die Recherche gesetzt: Ich will vor Ort miterleben, wie mein Frühstücksbrötchen entsteht.
Slow Baking statt Tiefkühl-Teigling
Etwa auf halber Strecke zwischen dem katholischen und dem evangelischen Kirchturm der Tüöttengemeinde liegt die kleine Dorfbäckerei, die Werner Wulfmeyer vor zehn Jahren gepachtet hat. Backstube, Ladengeschäft und angegliedertes Café bilden ein adrettes Ensemble mitten im Ortskern. Schon allein diese Lage bedingt, dass eine Erweiterung des 1908 gegründeten Betriebs so leicht nicht machbar wäre. Allerdings: „Wir wollen uns auch gar nicht vergrößern“, sagt Werner Wulfmeyer. Er zieht die nächste Charge goldbraun gebackener Kornbeißer und Dinkelchen aus dem Ofen. Als der Bäckermeister vor ein paar Jahren das Angebot erhielt, eine zusätzliche Filiale zu eröffnen, hat er sich bewusst dagegen entschieden: „Das wäre zu stressig geworden“, erklärt er ohne Bedauern. In Zeiten von Expansion und industrieller Massenfertigung, von Tiefkühl-Teiglingen und Discounterware kontert der 57-Jährige mit seiner eigenen Philosophie: „Wir grenzen uns bewusst von dieser Entwicklung ab“, sagt Wulfmeyer. Zum Beispiel, indem er und sein 15-köpfiges Team Elemente des ‚Slow Baking‘ verwenden – einer Methode, die ihre Schwerpunkte auf traditionelles Bäckerhandwerk und besonders lange Gär- und Reifezeiten legt, damit der Teig sein Aroma optimal entfalten kann.
Ein Berg aus frisch zubereitetem Hefeteig
Slow Baking – also frei übersetzt ‚langsames Backen‘, klingt gut – irgendwie nach Muße und Besonnenheit. Und ein bisschen auch nach Zen. Ich kremple meine Ärmel hoch, desinfiziere mir die Hände, schlendere zu dem langen, hölzernen Tisch am anderen Ende der Backstube hinüber und gebe mich entspannt meinen falschen Erwartungen hin. Schwupp – da kippt Florian Wulfmeyer, Geselle im väterlichen Betrieb, schwungvoll einen Berg aus frisch zubereitetem Hefeteig auf die bemehlte Arbeitsfläche. Er schnappt sich das Messer und zerteilt den Klumpen eilig in Portionen. Von wegen ‚Slow Baking‘, denke ich und betrachte die mit geröteten Wangen hin und her flitzenden Bäcker: Was den Brötchen einen gemächlichen Reifeprozess beschert, ist für den Chef und seine Mitarbeiter mit unübersehbarem Tempo verbunden. „Das muss jetzt alles zügig passieren“, erklärt Florian Wulfmeyer, „denn wenn sich der Teig in dieser Phase zu weit entwickelt, leidet die Qualität der Brötchen.“
„Der Erfolg bei den Kunden gibt uns Recht“
Auszubildender Josua Kölker hat bereits damit begonnen, jeden Ballen nochmal gründlich durch zu walken und anschließend zu einer ebenmäßigen Kugel zu formen. „Das Slow Baking ist recht aufwendig“, nickt Florian Wulfmeyer, „aber der Erfolg bei den Kunden gibt uns Recht.“ Schon ist der nächste Arbeitsschritt angesagt: Jeder Teigballen wird zu einem Fladen geknetet, auf eine tortentellergroße Platte gedrückt, die 30 runde Vertiefungen enthält – und in die Pressmaschine geschoben: Der Deckel schließt sich, es surrt, es rüttelt – und wie von Zauberhand werden die zukünftigen Brötchen in Form gebracht. Aber keines von ihnen wird heute Morgen auf meinem Frühstücksbrettchen landen. Denn dank ‚Slow Baking‘ liegt vor den kleinen Hefekugeln noch ein weiter Weg, auf dem sie von den Mettinger Bäckern gewissenhaft umsorgt werden: In einer Körnermischung, in Mohn oder Sesam gewälzt. Auf ein hölzernes Tablett in einen mannshohen Rollwagen gebettet. Bei fünf Grad bis zum kommenden Morgen unter einer schützenden Haube in die Kühlkammer geschoben.
Endspurt Richtung Frühstückstisch
Am nächsten Tag beginnt dann aber unweigerlich der Endspurt Richtung Frühstückstisch. Das leckere Vollwertbrötchen, das dazu auserkoren ist, meinen zornigen Magen zu besänftigen, hat Josua Kölker an diesem Morgen gegen Viertel nach drei Uhr aus der Kühlkammer geholt. Eine Stunde lang hat es bei Zimmertemperatur im Kreise seiner Kollegen ruhend in der Backstube verbracht, bis der Azubi es für eine Stunde in den Gärschrank verfrachtet hat: 35 Grad, 90 Prozent Luftfeuchtigkeit – ein Klima wie am Äquator und quasi ein kurzer, labender Sommerurlaub für das Teigbällchen. Dann noch ein weiteres Stündchen kontemplative Slow-Baking-Entspannung in der Backstube – bevor sich Bäckermeister Werner Wulfmeyer schließlich mit einem zufriedenen Lächeln das nächste Blech greift und in seinen Ofen schiebt. Mehrmals während des rund 20-minütigen Backprozesses lässt er einen feinen Wassernebel auf seine Schützlinge herab rieseln: „Damit die Kruste perfekt wird.“
25 verschiedene Sorten Körner- und zehn Sorten Weizenbrötchen
Die Recherche ist beendet. Während mein Brötchen und ich der heimischen Kaffeemaschine entgegen streben, hat das Team in der Backstube und im Laden noch reichlich zu tun: Rund 2.700 Brötchen – davon 25 verschiedene Sorten Körner- und zehn Sorten Weizenbrötchen – werden heute abgebacken und die gleiche Anzahl vorbereitet. Und natürlich: verkauft. Dazu kommen diverse Brote, Backwaren, Kuchen und Torten. „Bei uns Handwerksbäckern sind alle Tage ähnlich“, hat Werner Wulfmeyer mir zum Abschied noch mit auf den Weg gegeben, „aber keiner ist gleich.“ Er sieht glücklich aus, als er das sagt.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 03.09.2014)