Mit Tachymeter und Reflektorstab begeben sich Jörn Lindemann und Matthias Walterskötter auf Grenzsuche in Halen. Ich streife mir die Warnweste über und begleite die beiden.
Haben sie als Kind auch so gerne Schnitzeljagd gespielt? Und dabei diesen Hauch von Abenteuer genossen, sich in einer unbekannten Gegend Schritt für Schritt zurechtzufinden? Die Orientierung verleiht dem eben noch unbekannten Gelände eine Struktur. Aber wer ermöglicht eigentlich die Orientierung?
Jede Menge Grenzen
Wer durch die Landschaft spaziert, überschreitet Grenzen. Ständig. Und oftmals, ohne es zu merken. Denn egal ob Wald oder Wiese, Siedlung oder Geschäftsstraße: Der Boden, über den wir wandern, gleicht einem riesigen Puzzlespiel, bei dem sich ein Flurstück an das nächste schmiegt. „Die Gemeinde Lotte setzt sich derzeit aus 8291 Flurstücken zusammen“, erklärt Stefan Klümper vom Vermessungs- und Katasteramt des Kreises Steinfurt, „und die Gemeinde Westerkappeln aus 12006 Flurstücken.“
Geodätisches Spinnennetz
Doch das filigrane Muster, das von den Grenzlinien der einzelnen Parzellen gebildet wird, ist in der realen Kulisse weitestgehend unsichtbar und formt sich zudem auch noch andauernd um: Denn wenn sich Eigentumsverhältnisse ändern, ein neues Wohn- oder Gewerbegebiet erschlossen, eine Straße verlegt oder ein Radweg gebaut wird, verändert sich damit oft auch der Zuschnitt der jeweiligen Grundstücke – und die neuen Grenzverläufe müssen vermessen und dokumentiert werden. Die Übersicht über dieses geodätische Spinnennetz haben die Katasterbehörden. Sie führen, überprüfen und aktualisieren das sogenannte Liegenschaftskataster: das flächendeckende Register sämtlicher Flurstücke und deren exakte Beschreibung.
Ungeschultes Auge
Jörn Lindemann und Matthias Walterskötter vom Vermessungsteam des Vermessungs- und Katasteramtes des Kreises Steinfurt haben ihren orangefarbenen Bulli an diesem Vormittag in der Bauerschaft Halen geparkt. Mein ungeschultes Auge sieht die gepflegte Hofstelle eines landwirtschaftlichen Betriebs, ein kleines Wäldchen, durch das sich eine Schneise zieht und die Hauptstraße samt Bürgerradweg. Irgendwo in diesem Bereich will der Kreis Steinfurt demnächst die Halener Straße (Kreisstraße 23), die an dieser Stelle von Sandsteinmauern gesäumt in einer engen Doppelkurve verläuft, auf die Achmer Straße (Kreisstraße 15) verschwenken.
Irgendwo reicht nicht…
Allerdings: „Irgendwo“ reicht als Ortsangabe bei weitem nicht aus. Denn wenn die Baumaschinen anrücken, sollen die Arbeiter die exakten Grenzen nicht nur auf den Bauplänen, sondern auch unmittelbar vor Ort erkennen. Schließlich ist eine schnelle Orientierung die Voraussetzung für einen reibungslosen Ablauf des Projekts. „Was wir hier machen, nennt man eine Grenzanzeige“, erklärt Jörn Lindemann.
Patchwork-Unterlage
Er und sein Kollege schultern Werkzeug und Geräte: das Tachymeter, ein dreibeiniges Stativ, einen externen Rechner, einen Prismenstab, einen Spaten, mehrere Holzpflöcke und eine Sprühdose. Lindemann hat außer den Plänen für den veränderten Straßenverlauf auch eine Auszugskarte aus dem Liegenschaftskataster aus dem Jahr 1964 dabei, deren dicke und dünne, durchgezogene und gestrichelte Linien und diverse kreisförmige, drei- und viereckige Symbole das Schnittmuster für eben jene Patchwork-Unterlage darstellen, auf der wir uns gerade bewegen.
Überwucherte Grenzpunkte
Aus meiner laienhaften Sicht – weder Mathe, Erdkunde noch Informatik haben es je auf die Liste meiner Lieblingsfächer geschafft – folgt nun eine Art Geocaching für Fortgeschrittene: Als zentraler Mitspieler erweist sich dabei das Tachymeter: Verbunden mit Lindemanns mobilem Rechner und dem Geoinformationssystem, erfasst das elektronische Vermessungsgerät einzelne Zielpunkte entlang der Grenzlinie. Über ein Lichtsignal im Infrarotbereich, das vom Prismenstab reflektiert wird, ermitteln Jörn Lindemann, Matthias Walterskötter und das Tachymeter die genauen Koordinaten der vorhandenen, aber inzwischen längst von Wildkräutern und Gebüsch überwucherten oder von einer Asphaltdecke überzogenen Grenzpunkte.
Stochern im Gelände
„Zwei Meter achtzig nach links, zehn länger“, lotst Lindemann, den Blick konzentriert auf das Display des Rechners gerichtet, seinen Kollegen durchs Gebüsch. „Zweiundzwanzig nach rechts, vier zurück…“ Walterskötter richtet den Prismenstab aus – „Ziel erreicht“, bestätigt die Stimme des Rechners. Nun gilt es, die Theorie an der Praxis zu überprüfen. Der Vermessungsgehilfe stochert mit dem Spaten im Laub herum. „Klong!“ Aha: Der alte Grenzstein steht genau da, wo er stehen soll. Lindemann nickt zufrieden. Damit sich die Straßenbauer später orientieren können, schlägt Walterskötter einen weithin sichtbaren Holzpfahl ein und besprüht ihn mit roter Farbe. Auf diese Weise ermitteln die beiden nach und nach weitere markante Grenzpunkte: unter- oder oberirdisch positionierte Basaltsäulen, Dränrohre, Eisenbolzen.
Es ist angerichtet
Wie Bojen markieren am Ende die roten Hölzer die Umrisse der alten und der neu gebildeten Flurstücke. Lindemann und Walterskötter haben ihre Aufgabe für heute beendet: Die Schnitzeljagd für ihre Kollegen ist angerichtet.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 07.09.2016)