Die Natur einfach mal machen lassen

Es muss nicht immer Kirschlorbeer sein. Ein Beet voller Wildkräuter macht den Garten gleich viel spannender – nicht nur für den Menschen…! Foto: Ulrike Havermeyer

Pummelige Hummeln brumseln über ein Meer aus leuchtend blauen, weißen und orangefarbenen Krokussen, das auf dem Mittelstreifen des Heger-Tor-Walls blüht. Vom Dach der Bergkirche gellt der schrille Ruf des Turmfalken. Im Schlosspark wuseln Igel geschäftig durchs verwitternde Laub des Vorjahres. Endlich wieder Frühling! An allen Ecken in der Stadt werkelt das Leben emsig vor sich hin. In Osnabrück soll es nach Schätzungen von Biologen um die 3.500 verschiedene Tierarten geben. Deutlich mehr als im Umland, wo eine intensive Nutzung der Flächen viele unserer einstigen Mitbewohner aus der Tier- und Pflanzengesellschaft verdrängt hat. „Früher fuhren die Städter, wenn sie die Natur erleben wollten, raus aufs Land“, sagt Herbert Zucchi, Professor für Zoologie, Ökologie, Naturschutz und Umweltbildung an der Hochschule Osnabrück: „Heute können sie die Vielfalt vor der eigenen Haustür erleben.“

Die Vielfalt – einladend und attraktiv für Alle

Ein Grund zur Freude? Gerd Mäscher, ehrenamtlicher Naturschutzbeauftragter der Stadt Osnabrück, wiegt den Kopf: „Natürlich ist es schön, wenn so viele verschiedene Arten sich in unserer Stadt wohlfühlen – schließlich kommen sie ja freiwillig zu uns.“ Aber: „Wir müssen aufpassen, dass wir unsere Umwelt nicht immer stärker dahingehend verändern, dass am Ende nur noch solche Arten übrigbleiben, die es dann im Schlimmen überhaupt noch mit uns aushalten.“ Stichwort: Klimawandel. Stichwort: Stadtentwicklung. Mäscher und Zucchi plädieren dafür, das bereits heute so vielfältige Osnabrück daher auch weiter konsequent als einen lebensfreundlichen und einladenden Ort zu schätzen und weiter zu gestalten. „Eine Stadt, die es schafft, einladend und reizvoll für die unterschiedlichsten Lebewesen zu sein“, ist Herbert Zucchi überzeugt, „die ist auch attraktiv für ihre menschlichen Bewohner.“ Stichwort: Vielfalt. Stichwort: Sich Wohlfühlen.

Wer fühlt sich wo am wohlsten?

Artenvielfalt ist Lebensqualität. Foto: Ulrike Havermeyer

Sich Wohlfühlen – ein gutes Stichwort, meint Gerd Mäscher. „In welcher Umgebung fühlen wir uns denn eigentlich wohl?“, fragt er, lächelt und schweigt vielsagend. Auf diese Frage gibt es womöglich so viele unterschiedliche Antworten, wie es Osnabrücker gibt: Beim Herumtoben auf einem verwahrlosten Abenteuerspielplatz? Beim Anblick einer Phalanx aus gediegen arrangierten Siedlungsvorgärten? Bei einem Spaziergang durch eine verwunschene Allee aus schattenspendenden Laubbäumen? Osnabrück bietet das alles. Nur: Welches dieser Szenarien ist denn nun eigentlich auch gut für die Natur? Zucchi und Mäscher heben die Augenbrauen und atmen tief durch. Das Thema, so viel steht fest, ist komplex. Stichwort: Vernetzung.

Einfach mal in Ruhe lassen

Herbert Zucchi vertraut darauf, dass die Natur wohl selbst am besten wisse, was ihr gut tut – wenn der Mensch sie doch bloß öfter mal in Ruhe machen ließe. Der Wissenschaftler hat dementsprechend eine eindeutige Empfehlung: „Ich kann nur dazu raten, Teilstücke von Flächen einfach mal sich selbst zu überlassen.“ Sein Vorschlag: In öffentlichen Parks zum Beispiel, könne man zunächst ermitteln, wo sich die für die Menschen attraktivsten Bereiche befänden. „Denn natürlich brauchen wir freie, gemähte Rasenflächen, auf denen man Ball spielen oder sich gemütlich ausruhen kann“, betont er. Aber solche und andere Flächen, die die Menschen ohnehin kaum nutzen – „Da genügt es doch, wenn man die bloß zwei- oder dreimal im Jahr mäht – und den Rest der Zeit ganz bewusst die Natur Natur sein lässt.“ Es sei faszinierend zu beobachten, welcher Pflanzen- und Tierreichtum sich an solchen Orten – auch im eigenen Garten – einstelle: Von Huflattich und Veilchen bis zu Klatschmohn, von Schmetterlingen und Libellen bis zu Wildbienen.

Es müssen nicht immer Geranien sein

Auch wer keinen eigenen Garten zum „Teilverwildern“ hat, kann die Natur in der Stadt unterstützen: Stichwort: Nisthilfen. Stichwort: Blumenkästen. „Es müssen ja nicht immer Geranien sein“, sagt Zucchi. „Für die vielen Bienenarten, die besonders jetzt im Frühling auf ein reichhaltiges Pollen- und Nektarangebot angewiesen sind, könnte es in Osnabrück noch viel mehr Trachtpflanzen geben: Schneeglöckchen, Krokusse, Winterlinge, Blausterne oder Huflattich und andere Wildpflanzen.“ Sie ließen sich wunderbar im eigenen Blumenkasten ziehen. Und irgendwo unter dem Dachüberstand oder auf dem Balkon lasse sich sicher auch ein geeignetes Plätzchen für eine Nisthilfe finden – ganz gleich, ob für Vögel oder für Insekten.

Die Wildnis – raue Schönheit zum Erlernen

Naturnahes Wildblumenbeet. Foto: Ulrike Havermeyer

„Das alles hat natürlich auch einen ästhetischen Aspekt“, gibt Gerd Mäscher zu bedenken. Wildblumen im Staudenbeet, eine sich selbst überlassene, über Monate oder Jahre nicht gepflegte Fläche – das empfinde nicht jeder als schön, auch wenn sich die Natur gerade an solchen Orten durchaus sehr entschieden wohlfühle. „Ästhetisches Empfinden beruht oft auf einem Lerneffekt“, erklärt der Naturschutzbeauftragte. „Wenn wir als Kinder überwiegend in einer gestalteten, naturfernen Umgebung aufwachsen – dann ist das trotzdem das, was wir kennen und worin wir uns aufgehoben fühlen.“ Sein Appell: „Wir müssen den Bürgern und besonders den jungen Menschen vermitteln, dass die Natur, sich selbst überlassen, ein äußerst spannender Erlebnisraum ist, in dem sich ganz hautnah beobachten lässt, wie sich etwas aus sich selbst heraus entwickelt.“ Stichwort: Öffentlichkeitsarbeit. Stichwort: Beteiligung. Herbert Zucchi fasst zusammen: „Wir sollten der Natur mit mehr Toleranz begegnen.“ Er lächelt und fährt fort: „Wenn dann Toleranz in Liebe umschlägt – dann ist das doch für alle Seiten etwas sehr Schönes und Beglückendes.“

Naturfreundliches Osnabrück

Zum Beispiel: Der Piesberg

Rund um den Piesberg, den „gepiesackten Berg“, wie der Biologie Professor Herbert Zucchi einen seiner Lieblingsplätze in Osnabrück augenzwinkernd nennt, kann man der Natur bei der eigenen Regeneration und neuerlichen Entfaltung über die Schulter schauen: Dort, wo der Mensch über viele Jahrhunderte hinweg durch Steinbruch, Kohleabbau, Mülldeponie und Energiegewinnung seine Spuren hinterlassen hat, gesteht er inzwischen an vielen Stellen dem vernarbten Berg seine eigene, von jeglicher Planung befreite Entwicklung zu. Auf dem ehemaligen Bergbaugelände gedeiht mittlerweile ein immenser Reichtum an Pflanzen- und Tierarten: In der jungen Wildnis des Piesbergs kann man heute um die 15 verschiedene Fledermausarten beobachten, von denen neun auch in seinen Stollen überwintern. Die Kreuzkröte fühlt sich hier genauso wohl wie der Flussregenpfeifer, die Gebirgsstelze oder der Bergmolch. Der Mauerlattich wächst hier ebenso wie die Öhrchenweide, das Schmalblättrige Greiskraut oder die Späte Traubenkirsche. „Der Piesberg steht beispielhaft für einen Lebensraum, den der Mensch über einen längeren Zeitraum sich selbst überlassen hat“, beschreibt Zucchi: „An ihm können wir erleben, welches Potenzial die Natur besitzt, wenn wir sie nicht gängeln.“ Über die Homepage www.industriekultur-museum.de können sich Interessierte über Führungen und Veranstaltungen rund um den Piesberg informieren.

Zum Beispiel: Die Regenrückhaltebecken

„Wenn aus Funktionsräumen, deren Vorhandensein eine technisch Notwendigkeit darstellt, naturnahe Erlebnisräume werden, ist das eine phantastische Sache“, sagt Gerd Mäscher, ehrenamtlicher Naturschutzbeauftragter der Stadt Osnabrück. Viele der Osnabrücker Regenrückhaltebecken erfüllen diese Kriterien. Hier greifen die Verantwortlichen lediglich so viel wie nötig und so wenig wie möglich in die Entwicklung der Tier- und Pflanzenwelt ein: Ein gutes Beispiel dafür, dass sich Funktionalität und biologische Vielfalt nicht ausschließen. Kein Wunder, dass sich außer den erholungssuchenden Bürgern auch andere Naturfreunde an den Regenrückhaltebecken einfinden: Berg- und Teichmolch, Erdkröte und Grasfrosch, Wasserfledermaus und Großer Abendsegler.

Zum Beispiel: Das Grüne Netz

Mit ihrem Projekt „Grünes Netz“ hat sich die Stadt Osnabrück zum Ziel gesetzt, den Blick der Bürger auf Orte zu lenken, an denen der Mensch seiner Umgebung bewusst begegnen kann: um sie zu genießen, zu beobachten, um Veränderungen mitzuerleben – oder um ein Verständnis für die Hintergründe ihrer Entstehung und ihrer aktuellen Bedeutung für die Lebensqualität in Osnabrück zu entwickeln. Unter dem Motto „Natur findet Stadt“ macht das „Grüne Netz“ neugierig auf die Vielfalt lokaler Naturphänomene von Tümpelquelle bis Trockenmauer, von Industriebrache bis Streuobstwiese. Lageplan mit Erläuterungen unter www.stadt-osnabrueck.de/5901.asp. Weitere Auskünfte beim Fachbereich Grün und Umwelt der Stadt Osnabrück unter umwelt@osnabrueck.de.

Zum Beispiel: Terra Vita

Mit einer Ausdehnung von rund 1500 Quadratkilometern ist der Natur- und Geopark „Terra Vita“ nicht nur einer der großflächigsten Naturräume der Region, sondern auch einer der strukturreichsten. Der Landkreis Osnabrück lädt auf seinem Teilgebiet des Geoparks, das geprägt ist vom sanft zerklüfteten Mittelgebirgscharakter des Osnabrücker Berglandes, zu vielfältigen Entdeckungstouren durch die Erdgeschichte sowie durch die heutige Kulturlandschaft ein: Das Angebot reicht von geführten Wanderungen zu unterschiedlichen Themenbereichen bis zu Geocaching-Touren, von fachkundiger Pilzberatung bis zum sportlichen Klettererlebnis. Auf seiner Homepage www.naturpark-terravita.de informiert der Verein „Terra Vita“ über sein aktuelles Angebot.

 

Zum Beispiel: Zehn Orte – zehn Vögel

Der Osnabrücker Ornithologe Dr. Gerhard Kooiker gibt Tipps, an welchen Orten in der Stadt sich welcher Vogel besonders gut beobachten lässt:

  1. Rubbenbruchsee: Haubentaucher
  2. Heger Holz: Kleiber
  3. Pappelsee:  Teichralle
  4. Eversburger Klärteiche: Reiherente
  5. Katharinenviertel: Mauersegler
  6. Innenstadt/Dom: Uhu
  7. Gretescher Feuchtgebiet: Sumpfrohrsänger
  8. Lüstringer Berg: Schwarzspecht
  9. Feldflur Hellern: Steinkauz
  10. Bürgerpark: Hohltaube

(Erschienen in: Hier – Das Magazin der Osnabrücker Stadtwerke, Ausgabe 1/2014)